Michael Bünker - Mit Freude evangelischer Pfarrer oder Pfarrerin in Europa sein
Michael Bünker:
Mit Freude evangelischer Pfarrer oder Pfarrerin in Europa sein
Vortrag bei der KEP Konferenz in Admont, 17. 6. 2019
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,
zuerst bedanke ich mich herzlich für die Einladung, zu Ihrer Konferenz hierher nach Admont zu kommen. Ich freue mich, dass Sie für Ihre Zusammenkunft diesmal Österreich gewählt haben. Danke auch für die Gelegenheit, mit Ihnen jetzt am Vormittag einige Überlegungen zum Pfarrberuf teilen zu können. Dabei soll es inhaltlich auch um Salutogenese und Resilienz gehen. Für diese Aufgabe mögen mich mehr meine eignen Erfahrungen qualifizieren als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Pfarrberuf und den mit ihnen zusammenhängenden Disziplinen. Ich bin nach rund zwölf Jahren im Gemeindedienst als Pfarrer in die Kirchenleitung gewählt worden und habe aus dieser Perspektive, wenn auch nicht in der unmittelbaren Personalverantwortung, aber doch mittelbar die Fragen rund um den Pfarrberuf miterlebt und auch mitentschieden, wo immer es etwas zu entscheiden gab. In den letzten zwölf Jahren war ich als Bischof nach der Aufgabenbeschreibung unserer Kirchenverfassung zugleich auch als „erster Pfarrer der Kirche“ mit demHirtenamt über alle Amtsträger und Amtsträgerinnen in Seelsorge, Beratung und Mahnung betraut (Kirchenverfassung, Artikel 90 Absatz 1 Ziffer2). Während der Jahre im Bischofsamt war ich in ehrenamtlicher Funktion zugleich Generalsekretär der „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE)“ und konnte so immer wieder einen Eindruck gewinnen von der Situation in den evangelischen Kirchen in anderen europäischen Ländern. Es gibt hier – bei aller innerevangelischen Pluralität – wenig überraschend ein großes Maß an Übereinstimmung und Ähnlichkeit, was die Herausforderungen für den Pfarrberuf heute angeht. Diese Funktionen gehen nun zu Ende und ich stehe vor dem nächsten Übergang im Leben eines Pfarrers oder einer Pfarrerin, nämlich dem Wechsel in den Ruhestand. Freilich höre ich damit nicht auf, Pfarrer zu sein. Die Ordination als wechselseitige Verpflichtung zwischen der Kirche und den Frauen und Männern, die in den Dienst der öffentlichen Verkündigung treten, gilt weiter. Aber an die Stelle des „Du musst tritt nun das „Du kannst“, also die grundsätzliche Freiwilligkeit, mit der Pfarrer im Ruhestand Aufgaben übernehmen können.
Aber beginnen möchte ich weder mit dem kirchenleitenden Amt noch mit der europäischen Aufgabe, sondern mit meiner persönlichen Geschichte. Ichstamme – wie nicht wenige der Pfarrer und Pfarrerinnen – aus einem evangelischen Pfarrhaus, ja ich bin sogar im Pfarrhaus geboren worden. Pfarrerskind zu sein wurde mir gleichsam in die Wiege gelegt. Mein Urgroßvater war der Sohn eines Schweizer Färbermeisters namens Jakob Bünker (1812-1888), der Mitte des 19. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen Gründen aus der Schweiz nach Kärnten auswanderte. Sein Sohn Karl (1853-1919) studierte evangelische Theologie und übernahm eine Pfarrstelle in Kärnten, in Trebesing, einer Toleranzgemeinde. Toleranzgemeinden sind jene Gemeinden, die sich unmittelbar nach dem Toleranzpatent Kaiser Joseph II. im Jahr 1781 unter den vom Patent festgelegten Auflagen gebildet hatten. Sie sind bis heute so etwas wie das Fundament der Evangelischen Kirche in Österreich. In dieser Gemeinde war er mehr als vierzig Jahre lang tätig. Er hatte in eine angestammte Kärntner Pfarrerdynastie eingeheiratet, die unmittelbar nach dem Toleranzpatent aus dem fränkischen Raum nach Österreich gekommen war. Beide Söhne dieses ersten Pfarrers namens Bünker traten in die Fußstapfen ihres Vaters und wurden ebenfalls evangelische Pfarrer und zwar beide auch noch in Kärnten. Der jüngere von ihnen folgte dem Vater in der Gemeinde Trebesing nach und blieb selbst auch durch vierzig Jahre dort. Das war damals, also so zwischen 1880 und 1950, gar nicht so selten. Der ältere Sohn begann als Feldkurat kurz vor und dann während des Ersten Weltkrieges in der Armee der k. und k. Monarchie. Dieser Pfarrer Bünker (1888-1966), mein Großvater, übernahm nach dem Krieg die Pfarrgemeinde Fresach im Drautal in Kärnten, auch das eine der alten Toleranzgemeinden. Die Gemeinde Fresach hatte zur damaligen Zeit rund 2.100 Mitglieder, die verstreut auf den Bauernhöfen am Hang des Berges und in mehreren, recht weit voneinander entfernt liegenden Ortschaften lebten. Die Pfarrgemeinde hatte erst in den späten 1930er Jahren elektrischen Strom und gar erst nach dem Zweiten Weltkrieg einen Telefonanschluss. Dem Pfarrer oblag der regelmäßige Predigtdienst an allen Sonn- und Feiertagen, die Kasualien, von denen insbesondere die Beerdigungen aufwendig gewesen sein dürften, der Religionsunterricht und vor allem die Hausbesuche, die sich die Gemeindemitglieder regelmäßig erwarteten. Alle Wege waren zu Fuß zurückzulegen. Ein Gehalt in regelmäßiger Geldzahlung gab es nur zum Teil. In erster Linie wurden die staatlichen Aufgaben, wie der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen und die standesamtliche Funktion der Führung der Matrikelbücher, finanziell abgegolten. Einen wesentlichen Teil des Einkommens machten die Naturalabgaben aus, zu denen sich die Bauern der Gemeinde verpflichtet hatten und denen sie nicht selten sehr nachlässig nachkamen. Außerdem standen dem Pfarrer eine Kuh und mehrere Schweine, sowie ein Acker und ein großer Garten zur Verfügung, was ihn und seine Frau notwendigerweise zum Teilzeitlandwirt machte. Trotz dieser umfangreichen und vielfältigen Tätigkeit hatte Pfarrer Bünker Zeit, manche Ausfahrten zu unternehmen oder im Pfarrhaus Besuch für mehrere Tage aufzunehmen und insgesamt einen seinem bürgerlichen Milieu angemessenen Lebenswandel zu führen. Legendär in vielen Pfarrhäusern der damaligen Zeit waren die Runden, in denen das altösterreichische Kartenspiel „Tarock“ gepflegt wurde. Weil dieses Spiel besonders unter den Offizieren der alten k.und k. Armee verbreitet war und daher von Czernowitz/Chernivci bis Triest/Trieste und von Teschen/Cieszyn bis Kronstadt/Brasov gespielt wurde, nannte der österreichische Autor Fritz von Herzmanovsky-Orlando (1877-1954) einfach die ganze alte Donaumonarchie „Tarockanien“. Da dazu normalerweise vier Mitspielende gebraucht werden, bildeten sich Runden, die aus dem Dorflehrer, dem evangelischen Pfarrer und dessen Frau und dem katholischen Pfarrer am Ort gebildet wurden. Eine Tarock-Ökumene! Den Bauern war „Tarock“ unbekannt.
Die größte Leidenschaft meines Großvaters war aber das Veredeln und Aufziehen von Rosenstöcken, von denen bis zu hundert im Garten des Pfarrhauses standen. Während er also seine Bauernhöfe besuchte oder seine Rosen aufzog, studierte sein Sohn bereits evangelische Theologie. Das war mein Vater (1916-2001), der im Jahr 1940 seinen Dienst in der großen Gemeinde Leoben in der Steiermark begann. Leoben wurde erst 1902 als Pfarrgemeinde gegründet, hatte aber gegen Ende der 1930er Jahre bereits mehr als 6.000 Mitglieder. Das konnte von einem Pfarrer allein unmöglich bewältigt werden. Normalerweise waren zwei Pfarrer dort tätig, eine Diakonisse als Gemeindeschwester und einige Religionslehrende in den Schulen. Oft kamen für eine befristete Zeit Vikare dazu und unmittelbar nach 1945 aufgrund der starken Flüchtlingsströme auch der eine oder andere Flüchtlingspfarrer. Gottesdienste waren in der Leobener Gustav-Adolf-Kirche regelmäßig zu feiern und dazu an insgesamt sechs Predigtorten, von denen manche aufgrund der kriegsbedingt erschwerten Verkehrsbedingungen nur mit einer Übernachtung betreut werden konnten. Wöchentliche Bibelstunden, die Betreuung der am Ort ansässigen Hochschulgemeinde und ein reiches Vereinsleben kamen zu den zentralen pfarrerlichen Aufgaben dazu. Aber auch mein Vater hatte Zeit für manche Hobbies. Es wird erzählt von zahlreichen Ausflügen, von seiner schriftstellerischen Tätigkeit, von Besuchen und vom Abonnement im örtlichen Lichtspieltheater. Die Wege mussten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad oder zu Fuß bewältigt werden, wenn es keine Mitfahrgelegenheiten gab. Das Autofahren und das Telefonieren hat mein Vater erst in den 1960er Jahren gelernt und wurde mit beidem nie so recht vertraut. Im Jahr 1954, kurz nach meiner Geburt im Leobener Pfarrhaus, übersiedelte die ganze, mittlerweile fünfköpfige Familie nach Kärnten. Dort war mein Vater noch in zwei Gemeinden tätig, ehe er im Jahr 1984 mit 68 Lebensjahren in Pension ging. Durch vier Jahre waren wir beide aktiv im Pfarrdienst, denn ich begann nach dem Ende des Studiums im Jahr 1980 als Vikar in Wien-Döbling und wurde dann 1982 zum Pfarrer in Wien-Floridsdorf gewählt. Die Gemeinde in Floridsdorf hatte damals rund 3.500 Mitglieder. Drei Pfarrer waren dort tätig, dazu eine Gemeindepädagogin und zahlreiche Religionslehrende an den öffentlichen Schulen. Das hat sich im Grunde bis heute nicht geändert, die Zahl der Mitglieder ist nur um wenig auf 3.280 im laufenden Jahr gesunken. Gottesdienste waren und sind wöchentlich in der Floridsdorfer Kirche sowie einmal im Monat an den vier Predigtorten zu feiern. Neben den Pfarrern standen dafür auch eine Reihe von Lektorinnen und Lektoren bereit. In der Gemeinde gab es eine ganze Reihe von thematisch oder zielgruppenorientiert bestimmten Kreisen. Unter den Kasualien stachen die zahlreichen Beerdigungen im Arbeitsaufwand heraus. Viel Energie erforderte die gute Begleitung der Ehrenamtlichen, die sich um die Diakonie in der Gemeinde, um die Seelsorge in Krankenhaus und Altenheimen, um die Begleitung der Jugendlichen, der Konfirmandinnen und Konfirmanden und um die zahlreichen Gemeindeveranstaltungen annahmen und das bis heute tun. Verwundert hat mich, wieso in dieser Gemeinde in der Zeit meines Großvaters bei wesentlich größerer geographischer Ausdehnung und mehr als 5.000 Mitgliedern ein Pfarrer und eine Gemeindeschwester ausgereicht haben? Die Veränderungen, die seit den 1960er Jahren eingesetzt haben und das kirchliche Leben in den Gemeinden in vielen Bereichen neu ausgerichtet haben, sind hier wohl als Hauptgründe zu nennen. Die lebendige Gemeindekirche, in der in zahlreichen Gruppen und Kreisen verschiedene Aktivitäten organisiert werden, hat neue Anforderungen an den Pfarrberuf mit sich gebracht. Ein äußeres Zeichen dafür ist die Tatsache, dass in zahlreichen Gemeinden zusätzlich zu Kirche und Pfarrhaus Gemeindehäuser oder andere Gemeinderäume gebaut wurden. Dazu kommt, dass in all diesen Bereichen zunehmend Professionalität verlangt wurde. Fort- und Weiterbildung wurden nicht nur für die Pfarrer und (mittlerweile auch) Pfarrerinnen und andere Hauptamtliche notwendig, sondern auch für die Ehrenamtlichen. Als weiteren inneren Faktor der Veränderung nenne ich die Anforderungen der Institution Kirche durch einen manchmal extrem gestiegenen Aufwand an Verwaltung und Organisation. Dazu kommt durch die zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft der gestiegene Aufwand für die Planung und Durchführung der Kasualien, was sich am deutlichsten bei den kirchlichen Trauungen zeigt. Aber ähnliche Entwicklungen gab und gibt es nicht nur in der Kirche. Neu waren auch die grundsätzliche Infragestellung der traditionellen Rollenbilder von Männern und Frauen und die neue Bewertung von sogenannter Reproduktionsarbeit in Familie und Haushalt. Das sind nur ein paar willkürlich herausgegriffene Veränderungsfaktoren ohne Anspruch auf Systematik oder gar Vollständigkeit, die eben auch die Kirche und damit die pfarrerlichen Tätigkeiten betroffen haben. Aber: Die parochiale Versorgungs- und Betreuungskirche, für die mein Großvater und auch noch mein Vater tätig gewesen sind und die ihnen immer Zeit für eigene Tätigkeiten gelassen hatte, war durch diese Veränderungen nicht verschwunden. Im Gegenteil! Sie bestand ungebrochen weiter und tut das nach wie vor, sodass all die Änderungen, die ich nur kurz angedeutet habe, zusätzlich zur parochialen Tätigkeit in der Volkskirche wahrzunehmen sind.
Diese doppelte Herausforderung, einerseits das Überkommene fortzusetzen und so gut wie möglich zu sichern und andererseits für alle möglichen, auf jeden Fall zahlreichen neuen Formen des gemeindlichen Lebens zuständig zu sein, kennzeichnet den Pfarrberuf seit gut fünfzig Jahren. In Kirchen, die über die entsprechenden Ressourcen verfügen, wird dieses Nebeneinander und Zugleich zu einem gewissen Grad durch die Schaffung von Funktionspfarrstellen gemildert. Aber auch dieser Weg scheint sich angesichts drohender Ressourcenknappheit immer häufiger nicht länger weiterführen zu lassen. In anderen Kirchen ist diese Ausdifferenzierung noch gar nicht so deutlich umgesetzt, sodass sich die alte parochiale Versorgungskirche mit vergleichsweise geringen Ressourcen vorerst noch weiterführen lässt. Zwischen diesen beiden Polen bewegt man sich, wenn man etwa eine Gemeinde in der Ostslowakei mit einer in Frankfurt am Main vergleicht und dazwischen einen Blick auf das Kirchspiel in der Dresdner Neustadt wirft. Was ist das Modell für die Zukunft? Die Verlockung, das Althergebrachte könnte sich wieder als das Zukunftsträchtige erweisen, mag für manche ansprechend sein. Ich halte sie für verführerisch, aber falsch. Die herkömmliche Parochie lebt doch von Voraussetzungen, die zunehmend weniger gelten. Die Einheit von Wohn- und Arbeitsort zerfällt seit Jahrzehnten, die Mobilität der Menschen nimmt zu und vor allem sind die Jüngeren in der Gesellschaft immer weniger bereit, eine lebenslange Mitgliedschaft in einer Institution einzugehen, nur weil ihre Eltern und Großeltern schon Mitglieder dieser Institution gewesen waren. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das etwa politische Parteien betrifft, aber auch die zahlreichen Freiwilligenorganisationen, von der Feuerwehr bis zum Fußballverein am Ort. Dies betrifft natürlich auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften allgemein. Um es mit einem Schlagwort der Religionssoziologie zu sagen: Die Zugehörigkeit zur Kirche wird in der Optionsgesellschaft vom Schicksal zur Wahl. Aber verstehen Sie mich bitte recht: Die Ortsgemeinde hat ihren großen, unersetzlichen Wert! Sie wird sogar – davon bin ich überzeugt – in der Zukunft wichtiger werden, als sie es heute vielleicht ist. Wo sonst kommen ganz unterschiedliche Menschen zusammen? Wo sonst sitzen der Universitätsprofessor neben der Pflegerin aus der Slowakei und die Lehrerin an der Höheren Schule (Gymnasium) neben dem Asylwerber aus Afghanistan? Im Gottesdienst der evangelischen Gemeinde ist das der Fall. Und weil der Gottesdienst nicht nur seine bestimmte Zeit braucht, sondern auch den für ihn bestimmten Ort, ist die gottesdienstliche Gemeinde auch als Ortsgemeinde notwendig. Sie konstituiert eine Art von Nachbarschaft, in der Menschen, die sich nicht kennen und sich nicht ausgesucht haben, doch zusammenkommen und dabei voneinander Lebensgeschichtliches erfahren und Gemeinsames entdecken. Christliche Gemeinden als Orte organsierter Nachbarschaft sind nun nicht im luftleeren Raum. Sie brauchen die Verbindung, die Vernetzung mit anderen solchen Orten in ihrem Umfeld und tragen so zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Für beide Aspekte gibt es also gute Argumente. Lokal oder funktional, oder Kirche als Institution oder Kirche als Organisation – eines lässt sich nicht gegen das andere ausspielen. Eberhardt Hauschildt spricht sich sogar für ein „hybrides Verständnis der Kirche“ aus, das das Positive beider Aspekte nutzt und produktiv aufeinander bezieht. Wie sich diese beiden Entwicklungslinien, die Fortführung des parochialen Prinzips einerseits und die Wahrnehmung der Ausdifferenzierung kirchlichen Lebens und Arbeitens andererseits, fruchtbringend miteinander verbinden lassen ohne das eine gegen das andere auszuspielen, hat die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern mit dem Prozess „Profil und Konzentration“ versucht.
Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen meinem Großvater und meinem Vater und mir bzw. noch viel mehr den heute jungen Pfarrern und Pfarrerinnen liegt wohl nicht in der Arbeitsbelastung. Die war früher hoch und ist es heute auch noch, bestimmt in manchen Fällen auch zu hoch. Gleich geblieben ist auch die tief empfundene Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeit. Generell hat sich die gesellschaftliche Stellung der Kirche und damit auch des Pfarrers bzw. der Pfarrerin geändert. Den wesentlichen Unterschied sehe ich darin, dass wir erkennen, dass der Pfarrberuf nicht nur fordernd und belastend, erfüllend und beglückend ist, sondern leider auch zu Krankheiten führen kann. Die Symptome wie Stress und Erschöpfungszustände bis hin zum „burn-out“ waren schon länger zu beobachten, empirisch erforscht wurde das Phänomen im deutschsprachigen Raum erstmals mit der Studie von Andreas von Heyl aus dem Jahr 2003. Aus dem englischsprachigen Raum gibt es vergleichbare Studien schon seit den frühen 1960er Jahren. Andreas von Heyl hat die Pfarrerschaft der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Bayern erforscht. Die Ergebnisse sind alarmierend. Beinahe die Hälfte (49,5%) galten als burn-out gefährdet. Einige Jahre später (2009) wurde eine vergleichbare Erhebung in der Badischen Kirche durchgeführt, der zufolge 20% der Pfarrer und Pfarrerinnen stressbedingte Gesundheitsstörungen zeigen. Auch das ist ein erschreckend hoher Wert. Weitere Studien in anderen Landeskirchen folgten, das Deutsche Pfarrerblatt hat darüber immer auch berichtet.
Andreas von Heyl ist nun nicht bei der Analyse stehen geblieben. In seiner Antrittsvorlesung in Neuendettelsau im Jahr 2004 spricht er von „Salutogenese“. Er versteht diesen Begriff als „Schlüsselbegriff“ in der gegenwärtigen Diskussion zwischen Gesundheitswissenschaft und Praktischer Theologie im Blick auf die kirchlichen Berufe. Einen wichtigen Meilenstein stellte dann das von Andreas von Heyl, Konstanze Kemnitzer und Klaus Raschzok herausgegebene Handbuch „Salutogenese im Raum der Kirche“ aus dem Jahr 2015 dar. „Wie können Pfarrer und Pfarrerinnen mit den jeweiligen Belastungspotentialen so umgehen, dass sie ihre Gesundheit erhalten und weiterhin ‚gut, gerne und wohlbehalten‘ ihren Dienst wahrnehmen?“ So fragt Andreas von Heyl. Mit „gut, gerne und wohlbehalten“ greift er die drei Stichworte auf, unter denen die bayerische Kirche zwischen 2013 und 2016 einen Konsultationsprozess unter ihren Pfarrern und Pfarrerinnen durchgeführt hat. Ein Ergebnis dieses Konsultationsprozesses ist die Handreichung zur Erstellung von Dienstordnungen (in Österreich würde man Amtsaufträge dazu sagen) und die Einrichtung einer eigenen Projektstelle für Salutogenese in der Kirche. Solche Maßnahmen gehören in den Bereich der „enabling conditions“, durch die eine Organisation als ganze, also auch die Kirche, jene Rahmenbedingungen definieren soll, die den einzelnen ein Arbeiten ermöglichen, das die Gesundheit erhält und stärkt, anstatt sie zu gefährden.
Salutogenese ist ein Kunstwort, das der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky 1970 geprägt hat. Er hat die Geschichten von Frauen erforscht, die die Nazi-Konzentrationslager überlebt haben und sich wider alle Erwartung guter Gesundheit erfreuten. Das ließ ihn nach jenen gesundheitsfördernden Ressourcen fragen, die Menschen befähigen, ihre leib-seelische Integrität trotz widrigster Lebensumstände zu bewahren. Dabei hatte er herausgefunden, dass es dabei nicht um einzelne Faktoren geht, sondern um „salus“, um das Heil-Sein und das Leben als Ganzes. Antonovsky spricht dabei von einem „Kohärenzgefühl“. Menschen mit ausgeprägtem Kohärenzgefühl verfügen über eine erhöhte Widerstandskraft gegenüber Stressfaktoren und werden deshalb weniger oft und weniger schwer krank. Mit dem Konzept der Salutogenese sind auch andere Konzepte verwandt, die danach fragen, welche Möglichkeiten Menschen zur Verfügung stehen, um in Krisen zu bestehen oder dem Dauerdruck heutiger Arbeits- und Lebensbedingungen standzuhalten. Ich erwähne das Konzept der Resilienz (Emmy Werner 1977), das der Coping-Strategien (Richard Lazarus 1974), das Konzept der „Hardiness“ (Suzanne C. Kobasa 1982) oder das Konzept der „self-efficacy“ (Albert Bandura 1997).
Aus der großen Zahl miteinander verwandter, aber im Einzelnen doch unterschiedlicher Konzepte kann meiner Meinung nach abgelesen werden, dass jene Kräfte, die in Extremsituationen wie einer KZ-Haft das Überleben ermöglichen, heute unter gänzlich anderen Bedingungen im beruflichen Alltagsleben gebraucht werden. Dass das auch für Pfarrer und Pfarrerinnen wie für andere kirchliche Berufe heiß diskutiert wird, muss nicht überraschen. Bis zu einem gewissen Grad ist der Pfarrer bzw. die Pfarrerin eben nicht „anders“, wie es Manfred Josuttis noch 1982 behaupten konnte.
Natürlich gibt es auch kritische Anfragen an die Konzepte von Salutogenese und Resilienz. Die wichtigste geht davon aus, dass alle diese Konzepte der Stress- und Krisenbewältigung hochgradig individualistisch sind. Der Fokus ist ganz auf individuelle und persönliche Bewältigungsmechanismen und Bewältigungsstrategien von Stress und Überlastung gerichtet. Letztlich ist damit wieder jeder einzelne und jede einzelne selbst dafür verantwortlich, gesundheitlich unbeschädigt durch die Berufsjahre zu kommen und logischerweise selbst daran schuld, wenn das nicht gelingen sollte. Die „Tyrannei des gelingenden Lebens“ wird damit im Berufsbild des Pfarrers und der Pfarrerin in der Selbstwahrnehmung auf die Spitze getrieben. Ob damit dem berechtigten Anliegen wirklich gedient ist, kann dann wohl bezweifelt werden. Hier schließ sich ein Kreis: Dem Stress der Pfarrer und Pfarrerinnen, der auch durch die zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft verursacht ist, soll durch individuelle Strategien begegnet werden.
Es ist bestimmt zuerst einmal die Aufgabe der Leitungsverantwortlichen auf allen kirchlichen Ebenen, für entsprechende Rahmenbedingungen für den Pfarrberuf zu sorgen und auch Maßnahmen und Instrumente zur Verfügung zu stellen, die dem Pfarrer und der Pfarrerin ohne deshalb gleich als „krank“ zu gelten, Räume und Zeiten der Erholung, der Reflexion und Spiritualität offen halten. Hier kann sicher noch mehr geschehen, als die Dienstordnungen bisher vorsehen. Allerdings meine ich, dass wir uns hier vor einer möglichen Überregulierung des Pfarrberufes hüten müssen. Der Freiheitsimpuls des Evangeliums kann in der Kirche der Freiheit in glaubwürdiger und professioneller Weise nur von Christen und Christinnen kommuniziert werden, die selbst aus Freiheit und Verantwortung handeln. Aber Spielräume der Freiheit eröffnen – das ist auch für eine Kirchenleitung eine herausfordernde, aber bestimmt schöne Aufgabe. Auch kleinere und finanzschwächere Kirchen werden vermehrt in Personalentwicklung und Beratung, in Coaching und Geistlicher Begleitung investieren und die Freiräume für Pfarrer und Pfarrerinnen vergrößern müssen.
Viel schwieriger zu bearbeiten sind meiner Meinung nach zwei andere Faktoren in diesem Feld, weil sie sich gegen professionelle Methoden der Personalentwicklung sperren bzw. für sie nicht zugänglich sind.
Der eine betrifft die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, die sich eben auch in der Kirche auswirken und die von der Kirche nicht verändert oder außer Kraft gesetzt werden können. Ulrike Wagner-Rau hat hier als erstes die dauernde Verkürzung und gleichzeitige Beschleunigung der Zeit genannt. Längerfristige Planungen und traditionsgebundenes Handeln geraten unter Verdacht und unter Druck. Dauernde Flexibilität und ständiges Einstellen auf Neues und Unerwartetes erzeugen Unsicherheit und Angst. Der Kreativitätsdruck, der auf Pfarrern und Pfarrerinnen lastet, ist enorm und entspricht dem Innovationsdruck in anderen Berufen. Dabei ist doch gerade die Kirche auf Langfristigkeit und Dauer eingerichtet! Herkömmlichkeit meint ja nicht automatisch tote Tradition, sondern entspricht, wenn sie lebendig und lebensnah gestaltet ist, den Erwartungen der Menschen heute. Viele Pfarrer und Pfarrerinnen setzen sich selbst einem enormen Erwartungsdruck aus. Pfarrer und Pfarrerinnen leben also anachronistisch. Sie passen nicht wirklich in die Zeit, denn ihre Zeit steht in Gottes Händen. Wenn von so jemandem verlangt wird, ein professionelles Zeitmanagement zu erstellen, sind Spannungen unausweichlich. Weil mit der Kirche auch der Pfarrberuf von den gesellschaftlichen Veränderungen erfasst wird, stehen beide – Kirche und Pfarrerschaft – in Transformation. Ulrike Wagner-Rau spricht in dem Zusammenhang von der „Schwelle“. Niemand weiß, was morgen sein wird. Nur im Grundsatz können wir uns darauf verständigen, dass „change by design“ besser ist als „change by desaster“, aber alle Schritte in die Zukunft werden fehleranfällig sein und eher einem vorsichtigen Tappen und Tasten entsprechen als einem forschen Ausschreiten. Bedeutungsverlust und Erwartungserhöhung!
Ein Letztes: Es entspricht dem aktuellen Zeitgeist, dass orientierungsstiftende und wertgebundene Inhalte nicht mehr von Organisationen, sondern von Personen plausibel gemacht werden. Martin Luthers kluge und hilfreiche Unterscheidung von Amt und Person ist obsolet geworden. Aber auch heute und in Zukunft geht es um den Auftrag der Kirche, nicht um die persönliche Glaubensmission eines einzelnen im kirchlichen Beruf. Die Verständigung über diesen im Evangelium begründeten Auftrag gerade unter denen, die mit der öffentlichen Kommunikation des Evangeliums als Beruf zu tun haben, ist dringend notwendig. Glaubenskurse in den Gemeinden sind bestimmt sinnvoll, aber eine Verständigung über den Glauben unter den Pfarrern und Pfarrerinnen ist weithin noch ein unbeachtetes Feld, ja manchmal sogar ein Tabu. Dabei könnte es entlastend sein, sich von diesem Auftrag getragen zu wissen und es auch einmal genug sein lassen zu können. „Satis est“, „es ist genug“ – diese Formel aus dem Augsburger Bekenntnis (Artikel 7) lässt sich auch auf den Pfarrberuf übertragen. Wie lässt sich eine Verständigung darüber erreichen, was zu den zentralen Aufgaben im Pfarrberuf gehört und was nicht? Auf dieser grundlage ließe sich auch entscheiden, welche Aufgaben anders organisiert werden und welche vielleicht auch gar nicht länger gemacht werden sollen. Es sind nicht nur die Erwartungen von Gemeinde und Kirchenleitung, die Pfarrer und Pfarrerinnen davon abhalten, es einmal genug sein zu lassen. Nicht selten sind es auch die eigenen Erwartungen in der Ambivalenz von Allmachts- und Ohnmachtsphantasien. „Lass dir an meiner Gnade genügen“, wird dem Apostel Paulus gesagt (2.Kor.12,9). Dieses Genug und dieses Genügen zu finden würde die Kirche evangelischer und den Pfarrberuf menschlicher machen.